Im Reich der Finsternis
annabelle: Vladimir Sorokin, Ihr neuer Roman ist eine düstere Vision des Jahres 2027. Russland hat sich durch eine Mauer vom Westen abgeschottet und wird von einem Alleinherrscher regiert. Sie schreiben über die Zukunft, meinen aber die Abgründe der Gegenwart. Erfordert es nicht viel Mut, angesichts der politischen Situation in Russland zu sagen, was man denkt?
Vladimir Sorokin: Wissen Sie, die Literatur ist eine starke Droge, vor allem die russische Literatur. Für denjenigen, der nun mal ein russischer Schriftsteller geworden ist, ist diese Droge eine Hilfe in bestimmten Situationen. Sie hilft ihm nicht zuletzt, keine Angst zu haben und aufrichtig das zu schreiben, was er schreiben muss.
Sie sind bekannt für Ihre Radikalität, gerade auch was Gewaltszenen betrifft. Auf den ersten Seiten von «Der Tag des Opritschniks» wird gleich jemand aufgeschlitzt.
Ja, aber Gewalt ist nicht das eigentliche Thema. Es geht um die Moral und den Gehorsam des Opritschniks, eines Kriminellen, der für den Staat arbeitet. Die Opritschnina war die Leibgarde Ivans des Schrecklichen. Hier ist sie in der Zukunft unterwegs.
Es ist ein reiner Männerbund, eine Art Polizei, die im Auftrag des Herrschers Leute erpresst, Oligarchen beseitigt oder russische Klassiker verbrennt. Am Ende des Arbeitstags treffen sie sich feierlich in der Sauna und betäuben sich mit komischen Drogen: kleine Fische, die sich in die Venen beissen und in der Blutbahn verschwinden. Gibt es die wirklich?
Nein, nein. Das ist die Macht der Literatur!