Интервью

Интервью Владимира Сорокина для "Österreichisches Zentrum für russische Sprache und Kultur"

Anläßlich der Premiere der Dramatisierung von "Der Tag des Opritschniks" [День опричника] im Schauspielhaus in Wien war Vladimir Sorokin vom 22.-25. Jänner 2009 Gast des Österreichischen Zentrums für russische Sprache und Kultur. Nach der Premiere diskutierte er unter der Leitung von Maria Novotny mit Studenten des Instituts für Slawistik der Universität Wien über das Stück und die russische Literatur der Gegenwart. Mit Mitgliedern unseres Vereins und anderen Interessenten traf er sich zu einem Gespräch über sein Werk und seine Ansichten über Russland.

— Welche Ihrer Bücher werden in Russland am meisten gelesen?

— „Der himmelblaue Speck“ und „Der Tag des Opritschniks“.

— Wie würden Sie Ihre Leser beschreiben?

— Sie sind im allgemeinen zwischen 20-30 Jahren alt. Nach dem „Tag des Opritschniks“ kam auch die ältere Generation dazu, und zwar Leute aus der Sechziger-Ära, also jene, die sich durch die „Tauwetterperiode“ geprägt fühlen. Die meinten: „Endlich haben wir Sorokin für uns entdeckt!“

— Auf welchen Wegen erreicht Sie die Resonanz Ihrer Leser? Vorwiegend elektronisch oder gibt es organisierte Begegnungen mit den Lesern?

— Vorwiegend elektronisch; auch Lesungen werden veranstaltet. Nur, ich mag die öffentlichen Auftritte in Moskau nicht mehr. Das Publikum dort ist arrogant, die Leute kommen, um in erster Linie sich selbst zu bestätigen und zu präsentieren. Anders ist es in der Provinz, dort trifft man aufrichtiges Interesse und intelligente Fragen.

— Was war der Impuls, die „Opritschnina“ als literarische Grundlage zu verwenden?

— Zu jenem Zeitpunkt habe ich den Roman „Das Eis“ vollendet. Insgesamt arbeitete ich fünf Jahre für die Trilogie. Ich war ganz erfroren. Mir fehlte das lockere, burleske Sprach- und Szeneriemysterium. Der Impuls ist die Epoche Putins, die sich verdichtet hat. Ich wohne nicht weit von der Landstraße, wo die hohen Funktionäre mit ihren schwarzen Eskorten Richtung Moskau rasen. Und die Menschen stehen am Straßenrand und schauen ihnen zu, es erinnert an das Gemälde von Valentin Serov „Die Ausfahrt auf die Jagd von Peter II. und der Thronfolgerin Elisabeth“ aus dem Jahr 1900: Das Volk steht am Straßenrand, glotzt und verbeugt sich.

Eigentlich gab es da viele Impulse, deshalb habe ich das Buch auch in kurzer Zeit geschrieben. Vielleicht einer der letzten Impulse war mein Hund. Ich hatte ein Windspiel und einmal brachte ich ihm aus der Stadt einen blutigen Rinderkopf. Es war Winter, und als ich dem Hund das fleischige Stück im Hof auf den Schnee legte, begann er drum herum so einen rituellen Tanz… Dieses blutige Rot auf dem weißen Schnee und das verzückte Kreisen — es war furchterregend und schön zugleich.

— Die Sprache, die Sie kreieren, verweist den russischen Leser in mittelalterliche Zeiten. Waren es die Bylinen, also die russischen Heldenepen aus dem Mittelalter, die Sie sprachlich inspiriert haben?

— Ja, zum Teil auch die. Ich wollte eben so ein ornamentales Jahrmarktbuch schreiben. Ein literarisches, stilisiertes Äquivalent des Chochloma [d.i. folkloristische Geschirrmalerei aus dem Wolgagebiet].

— War der 1863 erschienene „Silberne Fürst“ von Aleksej Tolstoj, wo das Thema zum ersten Mal aufgegriffen wurde, mitbestimmend?

— Das Unausgesprochene von Alexej Konstantinowitsch hat mich bestimmt angespornt. Hätte er nämlich die bestialischen Verbrechen der Opritschnina beschrieben, hätte damals keine Zensur das Buch durchgelassen. Er schrieb ja damals: „Als ich die Chroniken jener Jahre las, senkte ich den Kopf und die Feder“.

Aber es ging nicht nur um die Verbrechen: dort wird auch das Prozedere beschrieben, wie Iwan der Schreckliche seine Frau auswählte. Es wurden sechzehn Mädchen aus ganz Russland im Kreml zusammengeführt. Sie wurden alle nackt in einer Reihe aufgestellt und der Zar in Begleitung eines venezianischen Arztes begann die Beschauung. Vor jeder Frau stand ein Kelch mit ihrem Urin. Der Arzt musste den Urin untersuchen und dem zukünftigen Gatten das jeweilige Krankheitsbild mitteilen, während der Zar die Kandidatin beschaute.

Die Opritschnina war kaum beschrieben in Russland und deswegen lebt die Idee davon noch immer.

— „Auf den Ruinen Europas kriechen die Araber und die Cyberpunks umher“… — das ist ein Bild eines kahlen Kontinents, welches ja noch vor kurzer Zeit ein starkes Faszinosum für Russland darstellte. Ist denn Europa kein Objekt der Begierde mehr?

— Sie dürfen nicht vergessen, dass es Worte des Opritschniks Komjaga sind. Er beschwichtigt sich selbst damit. Heute sagen die dort oben genau dasselbe, aber auf Urlaub fahren sie trotzdem am liebsten in die Schweiz oder nach Frankreich…

— Immer wieder erwähnt Komjaga drei unterschiedlichen Epochen der Wirren, die zum Glück überwunden seien: eine rote, eine weiße und eine graue. Das Farbsymbol der ersten ist klar, mit der weißen meinen Sie vermutlich den Zerfall der Sowjetunion und den Anbruch des Turbokapitalismus. Aber die graue?

— Es ist das Jetzt. Grau ist es, weil alles verschleiert ist. Den Menschen bleibt nur, zu ahnen, was da geschieht.

— Im „Tag des Opritschniks“ existiert die Regimeoppostion entweder in der Emigration oder in den nordöstlichen Weiten der sibirischen Wälder. In Ihrem letzten Buch, im Vorjahr erschienen Buch „Der Zuckerkreml“, das die Fortsetzung und Vollendung der Romanidee von dem „Tag des Opritschniks“ ist, beschreiben Sie in der Novelle „Underground“ eine hoch konspirative Zusammenkunft verschreckter, verarmter und verbitterter Regimeopfer, die im gemeinsamen Drogenrausch sich in Bären verwandeln und zu einem blutigen Rachefeldzug Richtung Kreml aufbrechen, um die Familie des Gossudaren in Stücke zu zerreißen und zu fressen. Wo sehen Sie den Schriftsteller Vladimir Sorokin in der antiutopischen Welt des Jahres 2028?

— Ich stelle mir nichts vor… (Pause) Wohl… im Underground…

— In dieser Clique? Im Rausch als Bär?

— Ja, wahrscheinlich.

— Hatten Sie Erwartungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Resonanz auf das Buch? Gab es etwas danach, was Sie befriedigt oder aber beunruhigt hatte?

— Wenn ich schreibe, dann denke ich nicht daran. Ich habe nicht erwartet, dass dieser Roman die Nervenknoten der Gesellschaft dermaßen trifft. Dass es geschah, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Ein Bekannter sagte mir einmal, ich hätte ein magisches Beschwörungsbuch geschrieben, damit all das eben nicht geschehe. Dass es aber danach als Prophezeiung interpretiert worden ist, ja, das hat mich beunruhigt.

— Das pragmatische, von der staatlichen Hand geförderte Einpflanzen der „russischen Idee“ hat Tradition. In welchen Kulturformen findet es heutzutage seinen Ausdruck? Und in diesem Zusammenhang: Kann man — nach bekannter Analogie — von der entstehenden Kunst der NAZart sprechen?

— Der Putinismus ist die nationale Idee Russlands. Und zwar das Aufrechterhalten dieser politisch-ideologischen Struktur auf allen Ebenen. Auch die Orthodoxie ist nur solange wichtig, wie sie für die Unterstützung des Regimes notwendig ist.

Und zur NAZart, ja es kam einmal zu einer Einladung von etlichen jungen Schriftstellern in den Kreml. Putin forderte sie auf, eine positive Literatur zu schreiben. Aber bis jetzt schreibt niemand so etwas…

Das Gespräch mit Vladimir Sorokin führte Maria Novotny