Das russische Volk war immer gehorsam
Wladimir Sorokin (52) gilt als einer der innovativsten Schriftsteller Russlands. Seine ersten Bücher wurden in seiner Heimat erst nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht. Der Schweizer Bernd Rüttimann arbeitet als freier Journalist.
Der russische Schriftsteller über die Präsidentschaftswahlen und seine schwarze Vision des Putin-Russlands
Wladimir Sorokin wird am nächsten Sonntag nicht wählen gehen. Über die Präsidentschaftswahlen und seine schwarze Vision des Putin-Russlands sprach der russische Schriftsteller mit Bernd Rüttimann.
* * *
STANDARD: Herr Sorokin, wem werden Sie bei der Präsidentenwahl am 2. März Ihre Stimme geben?
Sorokin: Wenn ich wirklich eine Wahl hätte, würde ich teilnehmen. Aber es ist keine Wahl. Es wird ein Nachfolger bestimmt wie einst in Byzanz. Die byzantinischen Autokraten haben die Krone nicht an einen Blutsverwandten weitergereicht, sie haben den Nachfolger selbst bestimmt. Putin folgt, bewusst oder unbewusst, diesem byzantinischen Modell.
STANDARD: Sie werden also nicht an die Urne gehen?
Sorokin: Ich sehe keine Notwendigkeit, an solch einer Veranstaltung teilzunehmen. Meine Teilnahme ändert doch nichts. Glauben Sie mir, diese Wahl ist ein langweiliges Thema.
STANDARD: Immerhin erlebt Russland die Geburt der Dynastie der Putiniden. Seltsamerweise halten sich die Proteste in Grenzen. Woher kommt dieser Gehorsam gegenüber der Macht in Russland?
Sorokin: Raten Sie einmal, welches der häufigste Familienname in Russland ist. Es ist nicht Iwanow, der folgt erst an dritter Stelle. Es ist Smirnow. Der Name kommt von "smirno!" - auf Deutsch "Achtung!", "stillgestanden!". Smirnow bedeutet ein strammstehender, gehorsamer Mensch. Ein Blick in die Geschichte Russlands zeigt, dass die Rolle des Volkes seit dem Beginn des russischen Staates im 16. Jahrhundert die Passivität war. Bis auf ganz wenige Ausnahmen war das russische Volk gegenüber den Mächtigen immer gehorsam.
STANDARD: Sind die Russen nicht demokratiefähig?
Sorokin: Als Putin die Macht übernahm, war Russland doch kein kaputtes Land. Wir waren doch keine Kannibalen. Natürlich war die Situation schwierig. Aber das Land funktionierte. Die Züge fuhren. Die Flugzeuge flogen. Langsam, aber sicher war Russland auf dem Weg, eine ganz normale Demokratie zu werden.
STANDARD: Wohin Putins Weg führen kann, beschreiben Sie in Ihrem neuen Buch "Der Tag des Opritschniks". Es spielt im Jahr 2027. Russland hat sich eingemauert und wird von einem Autokraten regiert, der seine Macht auf eine blutige Schlägertruppe - die Opritschniks - abstützt. Wie realistisch ist Ihre Prognose?
Sorokin: Das Buch ist eine Fantasie über die Zukunft. Eine Antiutopie. Die Wirklichkeit muss sich jedoch nicht zwingend auf diese Weise entwickeln. Denken Sie an George Orwells "1984" oder Anthony Burgess' "Clockwork Orange". Das sind auch antiutopische Modelle der Zukunft, die von der Realität nicht eingeholt worden sind.
STANDARD: Viele Ihrer Fantasien sind allerdings schon im heutigen Russland ziemlich real.
Sorokin: Konservative Politiker und Nationalisten diskutieren bei uns darüber, dass sich Russland abkapseln und eine Mauer hochziehen sollte. Der Einfall stammt natürlich von oben. Das Regieren würde viel leichter. Keiner würde mehr stören. In Putins Entourage finden sich viele Anhänger solch isolationistischer Gedanken. Ich wollte mit literarischen Mitteln in die Zukunft eines solchen Landes sehen. Die Situation erscheint ähnlich wie in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals gab es den Eisernen Vorhang, bei mir gibt es die Große Mauer. Früher gab es die kommunistische Propaganda, jetzt die orthodoxe Kirche.
STANDARD: Ein zentrales Thema im Buch ist die Gewalt. Oppositionelle werden gefoltert und geköpft, ihre Güter konfisziert und ihre Frauen vergewaltigt.
Sorokin: Nicht die Gewalt als solche hat mich interessiert, sondern das Verhältnis der Mächtigen zur Macht. In Russland ist die Macht immer mehr als nur Macht. Der Mensch entwickelt ein erotisches Verhältnis zur Macht. Es erinnert mich an die Wirkung einer Droge.
STANDARD: Verfällt jeder dieser Erotik?
Sorokin: Sobald ein Mensch an die Macht kommt, wird in ihm dieses Bewusstsein wach, Opritschnik zu sein. Das passiert selbst Straßenpolizisten. Plötzlich stehen sie über allem. Das Gesetz gilt für sie nicht mehr. Das ist das perverse an der Vertikalen der Macht, von der Putin so gerne spricht. Sobald der Mensch beginnt, diese Machtvertikale hinaufzuklettern, guckt er von oben auf die anderen. Vom Kreml aus sieht die Welt der Menschen aus wie eine Insektenwelt. Solange es diese Pyramide der Macht gibt, wird sich bei uns nichts ändern.
Bernd Rüttimann, DER STANDARD, Printausgabe 25.2.2008