Furioser Parforce
Ein Sowjetbürger verbrachte, so weißes die Statistik, rund ein Drittel seines Lebens in einer Warteschlange. Da schien es doch eigentlich nahezuliegen, diesen wichtigen Aspekt des Lebens literarisch zu verewigen - doch ist, soviel ich weiß, außer Vladimir Sorokin keiner auf diese nicht allzu systemkonforme Idee gekommen. Dafür aber ist Sorokins "Schlange" auch ein Meisterwerk, das seinesgleichen sucht.
"Die Schlange" hat Sorokin noch vor Glasnost und Perestroika geschrieben, während der Stagnation der Breschnjew-Ära - zunächst nur für die Schublade und für Freunde, denn an eine Veröffentlichung war erst zu denken, nachdem das Thema dieses Romans ein historisches Thema war. Daher wurde das Buch auch zuerst in Paris veröffentlicht, 1985.
"Die Schlange" ist durchweg in wörtlicher Rede geschrieben, und ist ausschließlich auf Dialogen der Schlangestehenden aufgebaut. Man erlebt also die Romanhandlung in Echtzeit. Sorokin geht sogar so weit, die Nacht, während der die mehr oder weniger geduldig Wartenden auf den umliegenden Parkbänken schlafen, durch leere Seiten wiederzugeben - eine konsequente Haltung des Autors, die einen zuerst einmal die Augen reiben lässt, bevor man loslacht.
Auf den ersten Blick verwirrt einen das natürlich, man wird ohne Kommentar und Einleitung mitten ins Geschehen geworfen: "Genosse, wer ist der letzte?", beginnt der Roman. Erstaunlich, wie rasch man sich dennoch zurechtfindet, wie schnell man die einzelnen Personen nur anhand ihrer zunächst banalen Gesprächsfetzen identifizieren kann - und erstaunlich auch, wieviel Hintergrundinformation diese Aussagen bieten, welche Geschichten sie andeuten, welch kuriose Szenen sich vor dem inneren Auge des Lesers arrangieren: Wer stunden- oder gar tagelang Rücken an Rücken steht, wird miteinander vertraut, und es dauert nicht lange, so wird getratscht, geflirtet, gewitzelt und gestritten, man lässt sich den Platz reservieren, weil man schnell noch etwas anderes erledigen muss (vielleicht muss man sich gar noch in einer weiteren Schlange den Platz freifalten lassen?), und man spekuliert über das Objekt der Begierde, denn keiner weiß genau, was da zum Kauf angeboten wird (da aber viele anstehen, muss es sich um Defizit-Ware handeln, und die ist allemal begehrenswert). Das wichtigste Thema natürlich ist, was da verkauft wird (das Gerücht spricht von Stiefeln, aber auch von Pelzkrägen), ob die Ware für alle ausreicht, aus welchem Land sie stammt (was viel über ihre Qualität aussagt), und ob sie in der gewünschten Größe und Farbe vorrätig ist. Ein Panoptikum des sowjetischen Alltags beschreibt Sorokin hier, wie man es beißender kaum darstellen kann. Beißend, aber auch tragisch oder komisch, denn mit der Zeit lernt der Leser die Schicksale der Wartenden kennen. Ein Highlight des Romans ist sicher das, was ich als die komischste Bettszene der Weltliteratur bezeichnen möchte - auch die Liebesszene samt vorhergehendem Kennenlernen besteht natürlich ausschließlich aus dem, was die beiden Protagonisten so, ähäm... reden.
Sorokins Experiment, ein scheinbar banales Thema auf scheinbar banaler Sprache aufzubauen, ergibt eine furiose Romanhandlung, die von Seite zu Seite vergnüglicher wird; manche Passagen erinnern einen an "Warten auf Godot", andere sind ganz einfach Gesprächsfetzen von mitunter furiosem Witz - und am Ende ergibt sich tatsächlich eine in sich geschlossene Geschichte, die, hätte ihr Autor sie konventioneller gestaltet, banal gewesen wäre. So aber wird man Zeuge eines Parforce-Rittes durch die "realsozialistische Wirklichkeit" und wird gleichzeitig glänzend unterhalten.
Und an diesem Punkt muss man unbedingt auch den deutschen Übersetzer loben; schließlich lebt "Die Schlange" von Sorokins virtuoser Sprachbeherrschung. Peter Urban hat dieses Feuerwerk an Sprachwitz und sprachlichen Finessen, die man oft erst auf den zweiten Blick erkennt, kongenial ins Deutsche übertragen.
23.02.2005