Sorokin ist Sorokin ist Sorokin ist ...
Ein ungenannter Ort, irgendwo in Ostsibirien, Anfang des Jahres 2068: Boris Gloger, ein Biophilologe mit Spezialgebiet Logostimulation, sitzt im GENLAB-18, einem tief in die Erde eingelassenen ehemaligen Bunker der sowjetrussischen Luftabwehr. Gloger soll zusammen mit Militärs, Genetikern, Medizinern und Thermodynamikern einen geheimen, hoch-brisanten Auftrag überwachen: die Herstellung von 20 Kilo himmelblauen Specks, einer leuchtenden, unzerstörbaren Substanz, deren Entropie gleich Null ist.
Über das Leben im Gen-Labor und über die Bedingungen der Speck-Herstellung berichtet Gloger in 14 Briefen an seinen in Moskau lebenden Geliebten. Der himmelblaue Speck, vertraut er ihm an, wird mithilfe von sieben Schriftsteller-Rekonstrukten, d.h. Klonen großer russischer Schriftsteller gewonnen: Tolstoj-4, Cechov-3, Nabokov-7, Pasternak-1, Dostoevskij-2, Achmatova-2 und Platonov-3. Diese Klone stimmen in unterschiedlichen Annäherungswerten mit ihren Ursprungs-Objekten überein, haben jedoch ein völlig anderes Aussehen: das vierte Rekonstrukt von Tolstoj, etwa, ist nur 112 cm groß und hat einen dreimal größeren Kopf wie ein normaler Erwachsener; Nakokov-7 ist eine dicke Frau mit rotblonden Locken; und Pasternak-1 ähnelt einem Lemuren.
Stimuliert von sogenannten „Erreger-Objekten“, werden sie in ihren Zellen in einen Schreibzustand versetzt. Während dieses „Skriptprozesses“ produzieren ihre Körper den besagten himmelblauen Speck, der so etwas wie das hochkonzentrierte Extrakt russischen Geistes bildet. Mit seiner Hilfe, so der Plan, soll auf dem Mond ein Reaktor für konstante Energie betrieben werden, der das Problem der ewigen Energie löst.
Am 12. Januar 2068 ist es endlich geschafft. An diesem Tag meldet Gloger seinem Geliebten den Vollzug des Experiments: Alle Klone haben ihre Texte geschrieben und in ausreichender Menge Speck produziert. Diesem und den folgenden Briefen legt Gloger deren Texte bei – Erzählungen, Stücke, Gedichte, wunderliche Travestien, die auf frappierende Weise mit den stilistischen Manierismen ihrer Vorbilder übereinstimmen, an entscheidenden Stellen aber von ihnen abweichen, und zwar entsprechend der prozentual-genetischen Abweichung ihrer „Verfasser“ vom jeweiligen Ursprungs-Objekt ...
Mit diesem Science-fiction-Szenario beginnt ein Roman, der nach seinem Protagonisten den Titel Der Himmelblaue Speck trägt und der, wie bislang behauptet worden ist, angeblich von Vladimir Sorokin stammt, tatsächlich aber von Sorokin-8 geschrieben worden ist, dem achten Rekonstrukt des 1955 in Moskau geborenen Schriftstellers, einem Klon, der zu 99% mit dem Ursprungs-Sorokin übereinstimmt.
Dieser Sorokin-8 teilt mit dem als Autor u.a. der Schlange, von Marinas dreißigster Liebe, von Roman und Norma bekanntgewordenen Vladimir Sorokin nicht nur das Aussehen, sondern auch die literarischen Obsessionen: teilt seine ambivalente Faszination für die operettenhafte Ästhetik von Stalinismus und Nationalsozialismus, seine sado-masochistischen Gewalt-Phantasien, seinen schwarzen Humor; sein konzeptualistisches Interesse an massenkulturellen Genres, z.B. Spionage-Filmen und Comics; nicht zuletzt seine stimmen-imitatorische Fähigkeit zum Nachschreiben klassischer russischer Literatur.
Wie schon in früheren Romanen von Vladimir Sorokin unter Beweis gestellt (etwa in Marinas dreißigste Liebe oder in Norma und Roman), sind auch die Travestien des 8. Sorokin-Rekonstrukts wahre Kabinettstückchen mimetischer und satirischer Anverwandlung – wie überhaupt sein Roman Der Himmelblaue Speck ein einziger geklonter Text ist, geklont aus der klassischen russischen Literatur und aus den Romanen Vladimir Sorokins, die ihrerseits schon geklont waren und die ihrerseits schon und die ...
Wer hier spricht oder schreibt bzw. wer oder was hier geklont ist – die Erdrammler (Sorokin-Lesern bereits aus Norma bekannt) sind an solchen literarischen Spitzfindigkeiten jedenfalls nicht interessiert: Sie interessieren sich nur für die 20 Kilo himmelblauen Speck! Während Boris Gloger und seine Wissenschaftler-Kollegen feuchtfröhlich ihren Erfolg feiern, dringen sie nämlich mit Waffengewalt in den Bunker ein, schneiden den Speck aus den Körpern der Klone, töten das gesamte Bunker-Personal und verschwinden mit ihrer Beute.
Die sechs schwerbewaffneten Eindringlinge sind Mitglieder des Erdrammler-Ordens. Dieser Orden residiert im Kahlen Berg, dessen Allerheiligstes eine in 12.690.505 Gläsern abgefüllte Sammlung russischer Böden ist. Der Orden verehrt die „Feuchte Mutter Erde“, und das durch ein möglichst tätiges Glaubensbekenntnis, d.h. durch inbrünstiges Penetrieren des sibirischen Bodens, und zwar zu jeder Jahreszeit, egal, ob eisgefroren oder feucht. Ihre – männlichen – Mitglieder sind dazu mit gewaltigen, für alle Böden geeigneten Geschlechtswerkzeugen ausgestattet, phänomenalen Gemächten, die nur mit Schubkarren an die Orte ihrer religiösen Verrichtungen transportiert werden können.
Vil, ein kahlköpfiges Riesenbaby mit Hängeohren und mächtigem Phallus wird schließlich vom Großmeister des Ordens damit beauftragt, die kostbare Substanz mittels einer Zeitmaschine ins Sowjetrußland des Jahres 1954 zu befördern. Eingefroren in einem Eistrichter, taucht er am 1. März 1954 unvermittelt auf der Bühne des Moskauer Bolsoj-Theaters auf, wo gerade die Eröffnung des „Allrussischen Hauses der Freien Liebe“ gefeiert wird ...
Soweit der in der Zukunft spielende erste Teil. Man beginnt zu ahnen, zu welcher Erregung der Roman bei den Hütern des Schönen, Guten und Wahren in Rußland, bei den Nationalisten und Kommunisten, aber auch bei geläuterten Demokraten, neuen Reichen und bei den Einfaltspinseln realistischen Erzählens geführt hat, als er 1999 in Moskau erschien. Verunglimpfte russische Schriftsteller, lächerlich gemachte Heimatliebe – da hörte für viele der Spaß auf. Die Literaturzeitschrift Oktjabr forderte eine „polizeiliche Ordnung“ zur Verhinderung solcher Literatur, und Sorokin, sofern er gesund sei, gehöre „für seine Schmiererei vor Gericht gestellt“.
Etwas moderater formulierte es Andrej Nemser, ein bekannter Kulturjournalist: „Leidenschaftlich wird hier das Böse poetisiert. Leidenschaftlich werden menschliche Größe, Kraft des Geistes und Begabung mies gemacht. Denn all dies gibt es nach Sorokin und dessen Gleichgesinnten nicht – und kann’s nicht geben. Der Mensch ist seiner Natur nach gemein, brutal, feige und niederträchtig. Sein Element ist der Kot, angereichert mit Blut und Sperma.“ – So ist das also, laut Nemser, beim verkommenen Sorokin.
Und nicht erst mit diesem Roman, möchte man ihn aufklären! Aber keine Angst, es kommt noch viel doller. Denn Sorokin läßt seine an extreme Reize gewöhnten Leser nicht im Stich: Der Speck aus der Zukunft taucht, wie gesagt, 1954 auf, im selben Jahr übrigens, in dem der zukünftige Schriftsteller Sorokin auf herkömmliche, noch penetrative Weise von Papa Sorokin in Mama Sorokin inkubiert wird.
1954? 1999? – Der wundersame Stoff erscheint in einer völlig auf den Kopf gestellten Welt, in einem operettenhaften Rußland: Stalin lebt (er ist erst ca. 50 Jahre alt), Chruscev ist längst abgesetzt; Stalin hat mit Hitler, der sich ebenfalls noch bester Gesundheit erfreut, nach dem gemeinsam gewonnenen Krieg einen sowjetisch-germanischen Freundschafts-Pakt geschlossen, England liegt nach einem russisch-deutschen Atom-Schlag in Schutt und Asche.
Im Kreml herrscht promiscues Sodom und Gomorrha. Stalin, ein Junkie, der sich seine Drogen unter die Zunge spritzt, liebt auf masochistische Weise den adeligen Nikita Aristarchovic Chruscev, einen bekannten Folterer junger Männer; seine Frau unterhält ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem eigenen Sohn, der seinerseits ein stadtbekannter Transvestit ist. Und Tochter Vestja, sie liest ihren guten alten Marquis deSade – natürlich auf französisch.
Verkehrte Welt also im Kreml, als der himmelblaue Speck auftaucht. Doch mit seinem Erscheinen geht der Spaß erst richtig los: Sorokins böse Phantasie beginnt sich zu überschlagen, er entführt seine Figuren in Hitchcock- und James-Bond-Szenarien, in Riefenstahl- oder Ejzenstejn- oder Chaplin-Filme, in Räume und Kulissen, die von Dali, Komar & Melamid, von japanischen Manga-Zeichnern oder von Arno Breker entworfen sein könnten.
Karnevaleske Szenen, wie im Slapstick, wechseln ab mit schrecklichen, wie aus Splattermovies: Stalin mit Molotov, Berija, Vorosilov, Sacharov und Ejzenstejn z.B. beim Abendessen, versammelt um den schmelzenden Eisblock; ihr ungläubiges Staunen über das extraordinäre Genital des aufgetauten Baby-Monsters; Stalins Flucht mit dem Speck zu seinem Geliebten Chruscev; Gespräche über Politik, während ein schöner Schauspieler unter Chruscevs Händen stirbt; das kannibalistische Verspeisen des Opfers (als Fondue); die unvermeidliche Kopulation von Graf und Führer; danach gepflegte Gespräche über Literatur, z.b. über einen Roman über den Alltag in einem LOVELAG.
Dann die hektische Flucht der Familie Stalin zu Hitler, nach Berchtesgaden, mit dem Speck im Koffer. Auch hier eine verkehrte Welt – als Seifenoper: ein großer, hagerer Hitler mit schulterlangem Haar (eine Hitler-Parodie, ähnlich wie bei Chaplin, nur größer), Eva Braun im Leopardenkleid; ein opulentes Festbankett zu Ehren der russischen Gäste, spätabends, mit Blick auf die Alpen, gedämpfte Richard-Strauß-Musik im Hintergrund, am Tisch Ribbentrop, Bormann, Göring, Leni Riefenstahl, außerdem Doggen und Windhunde; angeregte Gespräche über Film, über russische Philosophie, über die leidliche Judenfrage – bis Vesta, die kleine Tochter Stalins, sich plötzlich an den Flügel setzt und „Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!“ anstimmt.
Da reißt es Hitler von seinem Stuhl – und der große Showdown des Romans beginnt: Während der angespitzte Führer die minderjährige Vesta zum Analverkehr zwingt, dringen Stalin und Chruscev in den unterirdischen Funkraum ein (sozusagen in das Arschloch Hitlers). Dort sitzt Heinrich Himmler, ein 500 Kilo schweres Monstrum. Die Herren kennen sich. Himmler weiß, wie man aus dem Speck eine Super-Droge herstellt. Ein Fleischwolf steht bereit, dann gibt es ein Handgemenge, Maschinengewehre, Feuerstöße, die aufgezogenen Spritzen zersplittern, eine bleibt unverseht. Es folgt ein Gerangel zwischen Stalin und Hitler. Im letzten Moment stößt sich Stalin die Spritze durchs Auge ins Gehirn.
Daraufhin beginnt sein Gehirn mit rasender Geschwindigkeit zu wachsen zu wachsen zu wachsen ... bis es schließlich das ganze Universum überlappt – und am Ende auslöscht. Nach mehreren Billionen Jahren schrumpft es wieder auf seine ursprüngliche Größe zusammen. Da wacht Stalin auf. Es ist Anfang des Jahres 2068. Stalin ist der Diener eines gewissen Herrn F. Herr F. erhält einen Brief. Er stammt von seinem Geliebten Boris Gloger, einem Biophilologen, der im GENLAB-18 sitzt, einem tief in die Erde eingelassenen ehemaligen Bunker der sowjetrussischen Luftabwehr. Gloger soll einen geheimen, hoch-brisanten Auftrag überwachen: die Herstellung von 20 Kilo himmelblauen Specks, dessen Entropie gleich Null dessen Entropie gleich dessen Entropie ...
Und Gloger schickt weitere Briefe, darf man vermuten, und er schickt einen Roman, einen Roman mit dem Titel Der Himmelblaue Speck, der endlich eine Antwort auf die Frage enthält, wie es weitergeht mit der Literatur, nachdem sie von einem Schriftsteller namens Sorokin im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode geschrieben worden war, seinerzeit, in einem Roman mit dem Titel Roman. Nun, im Jahre 2068, erreicht uns also die lang erwartete Antwort: Die Literatur, sie ist auferstanden, sie steht auf und sie wird auferstehen, und zwar aus dem Fleisch und dem Geist geklonter Klassiker: Fortpflanzung durch unendliche Wiederholung. – Wenn das keine Hoffnung für unsere Vergangenheit im Jahr 2000 ist!
16./17.9.2000