Die Literatur ist tot. Es lebe die Literatur!
Eine obskure Mischung aus klassischem Briefroman, Science fiction, Splattermovie und LSD-Trip, vulgär, schamlos, und schockierend — «Der himmelblaue Speck» von Vladimir Sorokin ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack. Den hartgesottenen Avantgardefans und solchen, die es noch werden wollen, sei er jedoch wärmstens empfohlen.
Vladimir Sorokin (*1955) ist der bad boy der russischen Avantgarde. Bekannt geworden durch «Die Schlange», «Marinas dreißigste Liebe», «Norma», «Roman» und «Ein Monat in Dachau» wusste er schon immer so ziemlich alle Tabus zu brechen. Die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten, scheint, zumindest auf den ersten Blick, sein literarisches Kredo zu sein. Lesbische Liebe, Kannibalismus, offenherzige Sex-Szenen, Gewalt, Folterungen, Fäkalienfressereien und andere Obszönitäten — Sorokin provoziert um jeden Preis.
Es verwundert daher nicht, dass sein 2000 erschienener Roman «Der himmelblaue Speck» den Autor wegen Verbreitung von Pornographie vor Gericht brachte…
Wir schreiben das Jahr 2068. Sibirien steht unter chinesischer Vorherrschaft. In einem geheimen Genlabor werden die Klassiker der russischen Literatur geklont: Dostojevskij-2, Tolstoj-4, Nabokov-7, Achmatova-2, Pasternak-1, Tschechov-3, Platonov-3. In einen künstlichen Schreibrausch versetzt produzieren diese Klone eine mysteriöse Substanz — den himmelblauen Speck.
Mit einer Zeitmaschine wird der Speck ins Moskau des Jahres 1954 geschickt — eine völlig absurde Welt, die nichts mit der Realität zu tun hat. Oder vielleicht doch? Stalin — ein Junkie, der sich die Drogen unter die Zunge spritzt — lebt, Hitler ist ebenfalls bei bester Gesundheit. Nach dem gemeinsam gewonnenen Krieg — London wurde durch einen Atomschlag zerstört — haben die beiden einen sowjetisch-germanischen Freundschaftspakt geschlossen.
Die Phantasie des Autors beginnt sich zu überschlagen und entführt den Leser in immer bizarrere Szenerien. Stalin feiert sadomasochistische Orgien mit seinem Geliebten, dem Fürsten Chruschjov, Hitler kopuliert mit Stalins Tochter, während ihre Mutter lüstern zuschaut und Fürst Chuschjov verspeist einen von ihm getöteten Jüngling als Fondue.
Dies sind nur einige Ingredienzien der sorokinschen Monstervision, die in einem wahrhaft ekstatischen Finale gipfelt: nachdem Stalin sich den aus dem himmelblauen Speck gewonnenen Extrakt ins Gehirn injiziert hat, beginnt dieses zu wachsen, bis es das ganze Universum auslöscht. Einige Billionen Jahre später schrumpft es auf seine ursprüngliche Größe zusammen und wir befinden uns wieder im Jahr 2068. In einem geheimen Genlabor sollen die russischen Literaturklassiker geklont werden…
Der «Himmelblaue Speck» ist eine anstrengende Lektüre. Wer hier auch den leisesten Anflug von Logik erwartet, kann mit dem Roman wenig anfangen. Die Verständnisschwierigkeit liegt nicht zuletzt in der durch komplizierte Mutationen und, wie wir wissen, Klonvorgänge verunstalteten Zukunftssprache. Diese chinesisch-englischen Wortmutanten (irgendwie erinnert das Ganze an das russisch-englische Wortgebräu aus Anthony Burgess' «Clockwork Orange») sind im vom Autor erstellten Anhangsglossar nachzuschlagen.
Wer sich von Sorokins postmodernen Textspielereien nicht abschrecken lässt und bis zur Mitte des Buches durchhält, wird für seine Mühe belohnt und darf sich über die hirnverbrannten Kreationen von Klon-Dostojevskij & Co köstlich amüsieren — vorausgesetzt, man kennt die Originale.
Einem aufmerksamen Leser wird auch die durchaus tiefsinnige Botschaft des Werks nicht entgehen. Es geht Sorokin tatsächlich um mehr, als nur zu provozieren. Nach dem Untergang der Sozrealismus-Ära, in der die Literatur jahrzehntelang praktisch tot war und zu Propagandazwecken des Kommunismus benutzt wurde, wird heute die Orientierungslosigkeit und die Suche nach einem Neuanfang in der russischen Literatur zunehmend deutlich. So ist «Der himmelblaue Speck» eine radikale Abrechnung mit der Vergangenheit, zugleich aber eine nicht weniger radikale Absage an die Zukunft.
Der himmelblaue Speck — nichts anderes, als die Quintessenz der 'großen' russischen Literatur, wird hier zum Protagonisten des Romans. Wie im Staffellauf wird der Speck weitergereicht, doch sein eigentlicher Nutzen bleibt dem Leser verborgen. Ist überhaupt noch etwas mit ihm anzufangen?
Sorokin klont die Klassiker und auch noch sich selbst, wobei am Ende die Frage bleibt: Was wird mit der russischen Literatur? Die Literatur ist tot. Es lebe die Literatur!
«Der himmelblaue Speck», Vladimir Sorokin, Deutscher Taschenbuchverlag (2003), 396 Seiten.