Ganz normaler Scheiß
In seinem Erstling »Norma«zersetzt Vladimir Sorokin den Rohstoff, aus dem Leben und Gesellschaft gemacht sind
Gilt Alexander Puschkin als der Anfang der russischen Literatur, so kann man Vladimir Sorokin als ihren Ausgang betrachten. 1997 sagte er in einem Interview: »Die russische Literatur ist zu Anfang dieses Jahrhunderts verschieden, zeitgleich mit Tolstoi und Tschechow. Die Bolschewiki haben den Leichnam eingefroren, damit er nicht verweste. Als die Sowjetmacht starb, gab auch der Kühlschrank seinen Geist auf, und der Leichnam taute auf. Jetzt ist er im Zustand der Verwesung, stinkt vor sich hin. Das einzige, was man mit ihm tun kann, ist, ihn in die Erde zu vergraben. Womit ich seit 15 Jahren beschäftigt bin.«
Von Sorokin, der in Romanen und Erzählungen den Bogen von der nachkommunistischen Zeit über die Sowjetära bis zum alten Rußland schlug, ist nun, vorzüglich übersetzt, sein 1984 abgeschlossener Erstling erschienen: Norma. Das ist das russische Wort für »Norm, Regel« und ein Anagramm aus »Roman«: ein Werk also über gesellschaftliche Normung und über die literarische Gattungsnorm.
Norma ist zuallererst ein Roman im Roman: Ein Schriftsteller wird vom KGB verhaftet, in seiner Wohnung wird ein Manuskript gefunden, das eben den Titel Norma trägt. Ein Junge in Schuluniform liest als Zensor das Werk und wird am Ende das Urteil fällen.
Der erste von vier Teilen des Buches klärt in 26 Schnappschüssen aus dem Alltag, was »Norma« ist: ein Symbol für den ganz besonderen Kitt, der die sowjetische Gesellschaft zusammenhielt. Ob Ingenieur oder KGB-Offizier, ob Hausangestellte, Künstler oder Schachspieler, ob in der Familie oder an der Arbeit, sie alle essen täglich Norma. Norma ist mal hart und bröckelig, mal frisch und weich, sie ist bräunlich, stinkt und schmeckt ekelhaft. Gewonnen wird der »normative Rohstoff« im Kindergarten, wenn die Kleinen aufs Töpfchen müssen: Norma ist »Kaka«, Norm ist Scheiße. Sie durchdringt alle Schichten, Berufe und Altersgruppen und wird, so führt Sorokin mit skatologischem Sarkasmus vor, wahrhaft verinnerlicht, wobei der Schockeffekt auf seinen Roman Die Herzen der Vier und auf koprophile Erzählungen des Sammelbands Der Obelisk vorausweist. Auf den Roman Die Schlange, der nur anhand von Dialogen, die die Menschen beim Anstehen führen, ein Gesellschaftsporträt entwarf, deutet dagegen die Episodenstruktur dieses Teils von Norma.
Teil zwei zeichnet in einer Aneinanderreihung von über 1200 Substantiven mit dem Adjektiv »normal« das typische Bild eines normgemäßen Lebens. Von »normale Geburt« bis »normaler Tod« gibt es nichts, was außerhalb der Normalität liegt; auch Jungenstreiche und Seitensprünge gehören dazu und sind ganz »normaler Scheiß«. Ähnlich wie Sorokins Roman Marinas dreißigste Liebe die Auflösung des Individuums im Kollektiv schildert, wenn eine Kurtisane sich zur Phrasen dreschenden Parteigenossin wandelt, so verschwindet hier das Individuum in der Norm.
Teil drei gleicht zunächst Sorokins idealtypischem Roman nach dem Muster der klassischen russischen Realisten. Der tiefgläubige Anton kehrt an die Stätte seiner Kindheit zurück und erinnert sich an den frommen Vater, das Landleben, die erste Liebe, die Gespräche über Rußlands Kultur, Glauben, Seele. In einer Truhe findet er Dokumente, die ihn als Urenkel des Dichters Fjodor TjutcŠev ausweisen, von dem die Verse stammen: »Verstand wird Rußland nie verstehen, / Kein Maßstock sein Geheimnis rauben; / So wie es ist, so laßt es gehn - / An Rußland kann man nichts als glauben.«
Einmal kratzt die Erzählung an dem Einklang von Mensch und Welt, als Anton den Apfelbaum bestaunt: »Wie breit und üppig die Äste wuchsen! Welche Ruhe sie ausstrahlten, ach, verdammte Scheiße, ich kann nicht mehr, wie sanft die Wolken darüber hinwegsegelten!« Ein fiktiver Leser mischt sich nämlich ein und verlangt vom Autor eine andere Geschichte. Schnitt: Anton findet statt der TjutcŠev-Papiere eine Erzählung von 1948, Die Viehseuche. Darin inspizieren ein Parteisekretär und ein KGB-Beamter eine scheinbar vorbildliche Kolchose. Doch als musterhaft erweist sich nicht die Wirklichkeit, sondern bloß das Spielzeugmodell, das der Vorsitzende von seiner Kolchose gebastelt hat. Alles, was die Inspektoren besichtigen, lassen sie deshalb in Flammen aufgehen - auch den Viehstall, in dessen Verschlägen bereits die Leichen von Systemfeinden vermodern: »Nikolaj Lvovic RostovcŠev, 37 Jahre, Sohn eines verstockten Volksschädlings, Enkel eines Emigranten, Urenkel eines Kreisarztes. Eine Schwester, Irina Lvovna RostovcŠeva, wurde als lebender Dünger bei der Bepflanzung des Ruhmesparks in Gorkij verwendet.« Am Ende wird der Vorsitzende gelyncht: Nicht das System ist für die Mißwirtschaft verantwortlich, sondern eine Person dient als Sündenbock.
Teil drei ist ein entlarvender Rückblick auf die angeblich normale, heile Welt Altrußlands beziehungsweise der Sowjetunion. Der vierte Teil knüpft daran an. Er besteht aus Briefen eines Kriegsveterans an seinen Schwager, einen Wissenschaftler aus der Nomenklatur, dessen Landhaus er herrichtet. Es soll »alles ganz normal« werden, doch je länger sich, zum Beispiel wegen Materialmangels, die Arbeit hinzieht, desto mehr gerät der Rentner aus der Fassung. Er steigert sich in eine Tirade, die in einem langen »aaa« endet, einem Wut- und Schmerzensschrei zugleich: Ein Vertreter der Normalität verfällt angesichts der Realität, die sich den Regeln nicht fügt, dem Irrsinn.
Norma ist ein Roman nicht allein über die Sowjetunion oder Rußland. Was Sorokin beschreibt, trifft vielmehr ins Herz jeder Gesellschaft, von der keine bestehen kann, ohne daß ihre Mitglieder die Normen verinnerlichen. Am besten läßt sich die Stellung des Romans zur Realität wohl mit dem Wort »Distanz« beschreiben. Distanz zur Norm verkörpert Norma schon durch seine literarische Struktur, die die Standard-Romanform ignoriert, zerfällt das Buch doch in autonome Teile, verzichtet auf durchgehende Handlung und wiederkehrende Personen, wechselt vielmehr souverän die fiktionalen Ebenen und zwischen traditionellen und experimentellen Erzählweisen. Norma relativiert durch seine Form den Wert literarischer Normen und durch seinen Inhalt den Anspruch von Normen überhaupt auf absolute Geltung.
In Thema, Stil und Motivik verweist Sorokins Erstling auf seine späteren Romane. Mit Norma beginnt eine Entwicklung, die mit dem Roman 1996 schließt. Offen bleibt, ob Sorokin, der jetzt nur mehr fürs Theater arbeitet, diese Linie seines Schaffens fortführen wird - oder ob er wirklich meint, daß der Leichnam der russischen Literatur nun endgültig begraben ist.
04.06.1999